Zu John Rawls,
„Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ (1980), Teil 3: Kantischer Konstruktivismus

(in Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt a. M. 1992, S. 80–158)

 

Der kantische Konstruktivismus steht in scharfem Gegensatz zum rationalen Intuitionismus, wie er von Sidgwick, Moore und Ross vertreten wird. (139)

Der rationale Intuitionismus kann durch folgende Thesen zusammengefaßt werden: (137f., CP 510f.)[1]
1. “First, the basic moral concepts of the right and the good, and the moral worth of persons, are not analyzable in terms of nonmoral concepts [...].”
2. “Second, first principles of morals [...] are true statements about what kinds of considerations are good reasons for applying one of the three basic moral concepts: that is, for asserting that something is (intrinsically) good, or that a certain institution is just or a certain action right, or that a certain trait of character or motive has moral worth.” 3. “Third (and this is the distinctive thesis for our purposes), first principles, as statements about good reasons, are regarded as true or false in virtue of a moral order of values that is prior to and independent of our conceptions of person and society, and of the public social role of moral doctrines.
This prior moral order is already given, as it were, by the nature of things and is known by rational intuition [...]. Thus, our agreement in judgment when properly founded is said to be based on the shared recognition of truths about a prior order of values accessible to reason.” (CP, 510f.)[2]

Moralprinzipien sind also wahr oder falsch aufgrund einer vorgegebenen moralischen Ordnung. Diese moralische Ordnung ist durch die Natur der Dinge vorgegeben und unabhängig von unserer Auffassung von der Person, der Gesellschaft und der sozialen Rolle der Moral.

Grundgedanken des Kantischen Konstruktivismus

Festlegung der Gerechtigkeitsgrundsätze durch ein Konstruktionsverfahren, dessen wesentliches Element ein bestimmter Begriff der Person ist

Der Inhalt der obersten Gerechtigkeitsgrundsätze wird durch ein bestimmtes, gewissen vernünftigen Anforderungen genügendes Konstruktionsverfahren festgelegt.
Ein wesentliches Element dieses Konstruktionsverfahrens ist ein bestimmter Begriff der Person. Personen, die als rationale Akteure der Konstruktion charakterisiert werden, legen durch ihre Übereinkünfte die obersten Gerechtigkeitsgrundsätze fest.
Der Begriff der Person, das Konstruktionsverfahren und die obersten Grundsätze müssen in einer bestimmten Weise miteinander verknüpft sein. Mittels eines Konstruktionsverfahrens soll eine geeignete Verbindung zwischen einem bestimmten Begriff der Person und obersten Gerechtigkeitsgrundsätzen hergestellt werden.

Die kantische Form des Konstruktivismus kennzeichnet im wesentlichen dies: sie nimmt einen bestimmten Begriff der Person als Element eines vernünftigen Konstruktionsverfahrens, dessen Ergebnis den Inhalt der obersten Gerechtigkeitsgrundsätze festlegt. Anders ausgedrückt: in einer solchen Auffassung wird ein bestimmtes, gewissen vernünftigen Anforderungen genügendes Konstruktionsverfahren eingeführt, innerhalb dessen Personen, die als rationale Akteure der Konstruktion charakterisiert werden, durch ihre Übereinkünfte die obersten Gerechtigkeitsgrundsätze festlegen. [...] Der Leitgedanke ist der, mittels eines Konstruktionsverfahrens eine geeignete Verbindung zwischen einem bestimmten Begriff der Person und obersten Gerechtigkeitsgrundsätzen herzustellen. In einer kantischen Konzeption müssen der Begriff der Person, das Konstruktionsverfahren und die obersten Grundsätze in einer bestimmten Weise miteinander verknüpft sein [...]. (81f.)
[Der Grundgedanke des kantischen Konstruktivismus besteht darin,] zwischen den obersten Gerechtigkeitsgrundsätzen und dem Begriff der moralischen Person als freier und gleicher eine Verbindung herzustellen. Die obersten Grundsätze dienen der Bestimmung des für eine moderne Gesellschaft angemessenen Verständnisses von Freiheit und Gleichheit. Für die erforderliche Verbindung wird durch ein Konstruktionsverfahren gesorgt, in dem rational autonome Akteure unter vernünftigen Bedingungen öffentlichen Gerechtigkeitsgrundsätzen zustimmen. (133)

Voraussetzung eines komplexen Begriffs der Person

In einer kantischen Theorie spielt [...] ein relativ komplexer Begriff der Person eine zentrale Rolle. Im Gegensatz dazu erfordert der rationale Intuitionismus lediglich einen elementaren Personbegriff, der auf dem Selbst als Erkennendem beruht. Der Grund dafür ist, daß der Inhalt der obersten Grundsätze bereits festgelegt ist und die einzigen Anforderungen an das Selbst darin bestehen, daß es in der Lage sein muß, zu erkennen, worin diese Grundsätze bestehen, und sich von diesem Wissen bewegen lassen muß. (141)

Reine Verfahrensgerechtigkeit: Unabhängig von dem Konstruktionsverfahren gibt es keine moralischen Tatsachen

Losgelöst von dem Verfahren, die Gerechtigkeitsgrundsätze zu konstruieren, gibt es keine moralischen Tatsachen. Ob gewisse Tatsachen als Gründe von Recht und Gerechtigkeit anerkannt werden, oder wie sie zu gewichten sind, kann nur innerhalb des Konstruktionsverfahrens ermittelt werden, d. h. ausgehend davon, was die rationalen Akteure der Konstruktion tun, wenn sie angemessen als freie und gleiche Personen dargestellt werden. (85f.)
[Die für die Parteien im Urzustand rationalste] Konzeption wird nicht als eine brauchbare Annäherung an die moralischen Tatsachen betrachtet: es gibt keine solchen Tatsachen, der sich die angenommenen Grundsätze annähern könnten. (146)
[E]in wesentliches Merkmal einer konstruktivistischen Auffassung  [...]besteht darin, daß ihre obersten Grundsätze festlegen, welche Tatsachen für die Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft als Gründe der Gerechtigkeit gelten sollen. Neben dem Verfahren, diese Grundsätze zu konstruieren, gibt es keine Gründe der Gerechtigkeit. Anders gesagt, ob bestimmte Tatsachen als Gründe der Gerechtigkeit gelten, und welches relative Gewicht sie haben, kann nur auf der Basis der Grundsätze ermittelt werden, die sich aus der Konstruktion ergeben. Dies hängt mit dem Gebrauch der Verfahrensgerechtigkeit auf der höchsten Ebene zusammen. Die Entscheidung, wie einfach oder komplex die moralischen Tatsachen sein dürfen, liegt also bei den Parteien im Urzustand, d.  h., sie entscheiden über Anzahl und Komplexität der Grundsätze, die festlegen, welche Tatsachen von den Bürgern einer Gesellschaft als Gründe der Gerechtigkeit anerkannt werden sollen. (147f.)
Die Parteien im Urzustand stimmen nicht darin überein, was die moralischen Tatsachen sind, so, als ob es solche Tatsachen schon gäbe. Es ist nicht so, daß sie aufgrund ihrer unparteiischen Ausgangslage einen klaren und unverstellten Blick auf eine vorgängige und unabhängige moralische Ordnung haben. Vielmehr gibt es (für den Konstruktivisten) keine solche Ordnung, und daher auch keine solchen Tatsachen außerhalb des Konstruktionsverfahrens als Ganzem; die Tatsachen werden durch die resultierenden Grundsätze bestimmt. (152)

Es gibt keine Annäherung an eine (vorgegebene) moralische Wahrheit

Was eine Gerechtigkeitskonzeption rechtfertigt, ist nicht ihr Wahrsein bezüglich einer vorgängigen, uns vorgegebenen Ordnung, sondern ihre Übereinstimmung mit einem tieferen Verständnis unserer selbst und unserer Bestrebungen, sowie unsere Einsicht, daß diese Lehre in Anbetracht unserer Geschichte und der in unser Leben eingebetteten Traditionen die vernünftigste für uns ist. (85)
Die Suche nach vernünftigen Gründen für eine Übereinkunft, die in unserem Selbstverständnis und unserer Beziehung zur Gesellschaft wurzelt, ersetzt die Suche nach einer moralischen Wahrheit, die als durch eine vorgängige und unabhängige [...] Ordnung von Gegenständen und Beziehungen festgelegt interpretiert wird, einer Ordnung, die von unserem Selbstverständnis gelöst und von ihm verschieden ist. (85)
Vom Standpunkt der Parteien als Akteuren der Konstruktion werden die ersten Gerechtigkeitsgrundsätze nicht so aufgefaßt, als würden sie eine bereits vorgegebene moralische Ordnung abbilden oder als wären sie für diese wahr, wie es der rationale Intuitionismus annimmt. (142)
[D]er Gedanke einer Annäherung an moralische Wahrheit [hat] in einer konstruktivistischen Lehre keinen Platz: die Parteien im Urzustand erkennen nicht irgendwelche Gerechtigkeitsgrundsätze als wahr und korrekt an und sehen sie somit nicht als vorgegeben an; ihr Ziel besteht schlicht darin, die im Hinblick auf ihre Situation für sie rationalste Konzeption auszuwählen. Diese Konzeption wird nicht als eine brauchbare Annäherung an die moralischen Tatsachen betrachtet: es gibt keine solchen Tatsachen, der sich die angenommenen Grundsätze annähern könnten. (146)
In Anbetracht der verschiedenen Gegensätze zwischen kantischem Konstruktivismus und rationalem Intuitionismus erscheint es besser zu sagen, daß im Konstruktivismus oberste Grundsätze vernünftig (oder unvernünftig) statt wahr (oder falsch) sind – besser noch, daß sie die vernünftigsten in den Augen derjenigen sind, die sich als Person so verstehen, wie dies im Konstruktionsverfahren dargestellt wird. Hier wird »vernünftig« nicht mit Blick auf irgendeine alternative Wahrheitstheorie anstelle von »wahr« gebraucht, sondern einfach um eine Terminologie beizubehalten, die auf den konstruktivistischen Standpunkt verweist und ihn von dem des rationalen Intuitionismus abhebt. Dieser Gebrauch impliziert jedoch nicht, daß es keine natürlichen Verwendungen für den Wahrheitsbegriff in moralischen Überlegungen gibt, im Gegenteil. Beispielsweise können bestimmte Urteile und untergeordnete Normen als wahr aufgefaßt werden, wenn sie gültige Anwendungen vernünftiger oberster Grundsätze sind oder aus ihnen folgen. Von diesen obersten Grundsätzen kann man sagen, sie seien in dem Sinne wahr, daß man ihnen zustimmen würde, wenn die Parteien im Urzustand mit allen relevanten wahren Überzeugüngen versehen wären.“ (153f.)

Moralische Objektivität ist unabhängig von moralischen Tatsachen und Wahrheiten

[Moralische Objektivität muß] in Begriffen eines auf geeignete Weise konstruierten gesellschaftlichen Standpunktes verstanden werden [...], der für alle akzeptabel ist. (85)
Diese Interpretation von Objektivität hat zur Folge, daß man die Gerechtigkeitsgrundsätze besser nicht als wahr betrachtet, sondern als die für uns vernünftigsten im Hinblick auf unsere Auffassung von der Person als freies, gleiches und voll kooperierendes Mitglied einer demokratischen Gesellschaft. (133)
Wenn [...] eine solche Konstruktion tatsächlich zu denjenigen obersten Gerechtigkeitsgrundsätzen führt, die genauer als andere Auffassungen zu unseren wohlüberlegten Überzeugungen im allgemeinen und dem umfassenden Überlegungsgleichgewicht passen, dann scheint der Konstruktivismus eine angemessene Grundlage für Objektivität zu bieten. (152)
[D]er Konstruktivismus [ist] tatsächlich mit der Existenz einer einzigen vernünftigsten Gerechtigkeitskonzeption verträglich und daher mit dem Objektivismus in diesem Sinne vereinbar [...]. (154)
[Der kantische Konstruktivismus zielt] lediglich darauf ab zu zeigen, daß der Objektivitätsbegriff der rationalen Intuitionisten für Objektivität unnötig ist. Natürlich ist es immer möglich zu vertreten, daß wir, wenn wir tatsächlich jemals ein allgemeines und weites Überlegungsgleichgewicht erreichen sollten, nun endlich die moralischen Tatsachen erfassen, wie sie durch eine vorgegebene moralische Ordnung festgelegt sind; der Konstruktivist wird jedoch statt dessen sagen, daß unsere Gerechtigkeitskonzeption, nach allen denkbaren und anwendbaren Kriterien, nun die für uns vernünftigste ist.
Wir sind bei dem Gedanken angelangt, daß Objektivität nicht durch »den Standpunkt des Universums« vorgegeben ist, um Sidgwicks Wendung zu gebrauchen. Objektivität muß unter Bezug auf einen angemessen konstruierten gesellschaftlichen Standpunkt verstanden werden, für den der Rahmen, der durch das Verfahren des Urzustands geliefert wird, ein Beispiel ist. Dieser Standpunkt ist in verschiedener Hinsicht ein gesellschaftlicher. Es ist der öffentlich geteilte Standpunkt von Bürgern einer wohlgeordneten Gesellschaft, und die sich aus ihm ergebenden Grundsätze werden von ihnen im Hinblick auf die Ansprüche von Individuen und Vereinigungen als verbindlich anerkannt. [...] Wenn Bürger sich auf diese Grundsätze berufen, sprechen sie als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft und appellieren an den gemeinsamen Standpunkt entweder in eigener oder fremder Sache. Die wesentliche Übereinstimmung ihrer Urteile ergibt sich also nicht aus ihrer Anerkennung einer vorgängigen und unabhängigen moralischen Ordnung, sondern aus jedermanns Akzeptanz derselben maßgebenden gesellschaftlichen Perspektive.“ (155f)

Vorgegebene moralische Tatsachen sind unvereinbar mit der Autonomie der Personen

[Moralische Grundsätze sind heteronom, wenn sie] auf Beziehungen zwischen Dingen beruhen, deren Wesen nicht durch die Konzeption der Person beeinflußt oder bestimmt wird. [...] Heteronomie liegt nicht nur dann vor, wenn, wie bei Hume, oberste Grundsätze durch die besondere psychologische Verfassung der menschlichen Natur festgelegt werden, sondern auch, wenn sie durch eine Ordnung von Universalien oder Begriffen, erfaßt durch rationale Anschauung, bestimmt werden, wie in Platons Reich der Ideen oder in Leibniz’ Hierarchie der Vollkommenheiten.“ (140)
Kants Vorstellung von Autonomie erfordert, daß keine solche Ordnung vorgegebener Gegenstände existiert, welche die obersten Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit unter freien und gleichen moralischen Personen festlegt. [...] Vielleicht sollte ich, um Mißverständnisse zu vermeiden, hinzufügen, daß eine kantische Lehre der Autonomie nicht bestreiten muß, daß die Verfahren, mittels derer die obersten Grundsätze ausgewählt werden, synthetisch a priori sind. Diese These muß jedoch richtig verstanden werden. Der Grundgedanke ist, daß solche Verfahren in angemessener Weise auf praktische Vernunft gegründet sein müssen, oder genauer, auf Begriffe, welche Personen als vernünftig und rational charakterisieren und in welchen sich deren Selbstverständnis als freie und gleiche moralische Personen ausdrückt. Anders gesagt: oberste Gerechtigkeitsgrundsätze müssen aus einer Konzeption der Person vermittels einer geeigneten Repräsentation, wie sie in Gerechtigkeit als Fairneß durch das Konstruktionsverfahren veranschaulicht wird, hervorgehen.“ (140)

Vorrang des Praktischen

Die eigentliche Aufgabe der Rechtfertigung einer Gerechtigkeitskonzeption (nämlich: „die tieferen Grundlagen der Übereinstimmung, von denen man hofft, daß sie im Common sense eingebettet sind, aufzudecken und zu formulieren“ (84), ist kein in erster Linie epistemologisches Problem, sondern ein praktisches:

Die Aufgabe besteht darin, eine öffentliche Gerechtigkeitskonzeption zu artikulieren, mit der alle leben können, die ihre Person und ihre Beziehung zur Gesellschaft in bestimmter Weise auffassen. (85)


[1]  CP: John Rawls: Collected Papers, hrsg. von Samuel Freeman, Cambridge, Mass. 1999.

[2]  „Für unsere Zwecke kann der rationale Intuitionismus an dieser Stelle durch die folgenden zwei Thesen zusammengefaßt werden: erstens, die grundlegenden moralischen Begriffe des Richtigen, des Guten und des moralischen Wertes von Personen sind nicht in nicht-moralischen Begriffen analysierbar [...]; und zweitens, oberste Moralgrundsätze [...] sind [...] unmittelbar einleuchtende Sätze darüber, welche Art von Überlegungen gute Gründe für die Anwendung einer der drei grundlegenden moralischen Begriffe darstellen, das heißt für die Behauptung, daß etwas (intrinsisch) gut ist oder daß eine bestimmte Handlung richtig ist oder daß ein bestimmter Charakterzug moralischen Wert hat. Diese beiden Thesen implizieren, daß die für eine wirksame öffentliche Gerechtigkeitskonzeption so wichtige Übereinstimmung im Urteil auf der Anerkennung unmittelbar einleuchtender Wahrheiten über gute Gründe beruht. Und worin diese Gründe bestehen, ist durch eine moralische Ordnung festgelegt, die unserer Auffassung von der Person und der sozialen Rolle der Moral vorhergeht und von ihr unabhängig ist. Diese Ordnung ist durch die Natur der Dinge vorgegeben und wird nicht durch die Sinne erkannt, sondern durch rationale Anschauung. Es ist dieser Begriff moralischer Wahrheit, dem wir den Begriff vernünftiger oberster Grundsätze entgegenstellen.“ (137f.)