Zu John Rawls,
„Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie“ (1980), Teil 1 und 2

(in Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt a. M. 1992, S. 80–158)

 

Gesellschaftliche Aufgabe einer Gerechtigkeitskonzeption: Eine Gerechtigkeitskonzeption soll „es allen Gesellschaftsmitgliedern […] ermöglichen, ihre gemeinsamen Institutionen und grundlegenden Einrichtungen gegenseitig füreinander annehmbar zu machen, indem sie öffentlich als ausreichend anerkannte Gründe anführen, die durch diese Konzeption selbst bestimmt sind.“ (82)

Aufgabe der Rechtfertigung einer Gerechtigkeitskonzeption: „Wie können Menschen sich auf eine [solche] Gerechtigkeitskonzeption einigen, […] die für sie in Anbetracht ihres Selbstverständnisses als Personen und ihres Verständnisses der allgemeinen Merkmale sozialer Kooperation zwischen so verstandenen Personen die vernünftigste ist?“ (83)

Problem: Es besteht „keine Übereinstimmung darüber […], wie die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen gestaltet werden müssen, wenn sie der Freiheit und Gleichheit von Bürgern als moralischen Personen entsprechen sollen.“ (83)

Lösungsvorschlag einer kantischen Konzeption: „[A]uf welche traditionell anerkannten Prinzipien der Freiheit und Gleichheit […] [würden] sich freie und gleiche moralische Personen einigen […], wenn sie sich in fairer Weise allein als solche Personen darstellten und als Bürger betrachteten, die ihr ganzes Leben in einer bestehenden Gesellschaft verbringen? Durch ihre Übereinkunft […] würden […] die angemessensten Grundsätze von Freiheit und Gleichheit ausgewählt und damit zugleich die Grundsätze der Gerechtigkeit festgelegt.“ (83)
Gerechtigkeit als Fairneß geht „von dem Gedanken aus, daß die angemessenste Gerechtigkeitskonzeption für die Grundstruktur einer demokratischen Gesellschaft diejenige ist, die ihre Bürger in einer Situation annehmen würden, die fair ist zwischen ihnen und in der sie ausschließlich als freie und gleiche moralische Personen dargestellt werden.“ (90)

Es wird nicht versucht, „eine Gerechtigkeitskonzeption zu finden, die für alle Gesellschaften unabhängig von ihren sozialen und historischen Umständen angemessen ist. Wir wollen eine grundsätzliche Uneinigkeit bezüglich der gerechten Form grundlegender gesellschaftlicher Institutionen innerhalb eine demokratischen Gesellschaft unter modernen Bedingungen beseitigen. (83f.)

„Das Ziel politischer Philosophie innerhalb der öffentlichen Kultur einer demokratischen Gesellschaft ist es, [die] gemeinsamen [Grund-]Begriffe und [stillschweigend für wahr gehaltenen] Grundsätze, von denen angenommen wird, daß sie im Common sense schon latent vorhanden sind, zu artikulieren und explizit zu machen.“ (84)
„Um eine kantische Konzeption innerhalb einer demokratischen Gesellschaft zu rechtfertigen, genügt es nicht, aus gegebenen Prämissen korrekte Schlußfolgerungen zu ziehen, selbst dann nicht, wenn es sich um öffentlich geteilte und wechselseitig anerkannte Prämissen handelt. Die eigentliche Aufgabe besteht darin, die tieferen Grundlagen der Übereinstimmung, von denen man hofft, daß sie im Common sense eingebettet sind, aufzudecken und zu formulieren; […].“ (84)
Diese eigentliche Aufgabe ist „kein in erster Linie epistemologisches Problem […]. Die Suche nach vernünftigen Gründen für eine Übereinkunft, die in unserem Selbstverständnis und unserer Beziehung zur Gesellschaft wurzelt, ersetzt die Suche nach einer moralischen Wahrheit, die als durch eine vorgängige und unabhängige […] Ordnung von Gegenständen und Beziehungen festgelegt interpretiert wird, einer Ordnung, die von unserem Selbstverständnis gelöst und von ihm verschieden ist. Die Aufgabe besteht darin, eine öffentliche Gerechtigkeitskonzeption zu artikulieren, mit der alle leben können, die ihre Person und ihre Beziehung zur Gesellschaft in bestimmter Weise auffassen.“ (85)

„Was eine Gerechtigkeitskonzeption rechtfertigt, ist nicht ihr Wahrsein bezüglich einer vorgängigen, uns vorgegebenen Ordnung, sondern ihre Übereinstimmung mit einem tieferen Verständnis unserer selbst und unserer Bestrebungen, sowie unsere Einsicht, daß diese Lehre in Anbetracht unserer Geschichte und der in unser Leben eingebetteten Traditionen die vernünftigste für uns ist.“ (85)

Drei Modellvorstellungen

Gerechtigkeit als Fairneß versucht die (latent im Common sense schon vorhandenen) grundlegenden Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit, idealer sozialer Kooperation und Personalität ans Licht zu bringen, indem sie [...] „Modellvorstellungen“ ausarbeitet. Sodann argumentieren wir innerhalb dieser Vorstellungen, die nur bestimmt genug sein müssen, um ein zustimmungsfähiges öffentliches Verständnis von Freiheit und Gleichheit zu erreichen.“ (86f.)

Die drei wichtigsten Modellvorstellungen der Gerechtigkeit als Fairneß sind der Begriff der wohlgeordneten Gesellschaft, der Begriff der Person sowie der Urzustand. (108)

„Nun sind die zwei grundlegenden Modellvorstellungen von Gerechtigkeit als Fairneß die einer wohlgeordneten Gesellschaft und die einer moralischen Person. Ihr allgemeiner Zweck besteht darin, die wesentlichen Aspekte unseres Selbstverständnisses als moralische Personen und unserer Beziehung zur Gesellschaft als freie und gleiche Bürger herauszustellen. Sie bilden gewisse allgemeine Merkmale einer Gesellschaft ab, deren Mitglieder sich selbst und ihre sozialen Bindungen untereinander in bestimmter Weise auffassen. Der Urzustand ist eine dritte und vermittelnde Modellvorstellung: seine Rolle besteht darin, die Verbindung zwischen der Modellvorstellung einer moralischen Person und den Gerechtigkeitsgrundsätzen herzustellen, welche die Beziehungen der Bürger in der Modellvorstellung einer wohlgeordneten Gesellschaft kennzeichnen.“ (87)

Der Begriff der wohlgeordneten Gesellschaft (88f, 108ff.)

– Eine wohlgeordnete Gesellschaft wird durch eine öffentliche Gerechtigkeitskonzeption wirksam reguliert: (88)

– Alle erkennen dieselben obersten Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit an und jeder weiß, daß alle anderen sie ebenso anerkennen.

– Die Grundstruktur entspricht tatsächlich den Gerechtigkeitsgrundsätzen und alle sind aus guten Gründen davon überzeugt, daß dem so ist.

– Die Gerechtigkeitsgrundsätze sowie deren Anwendung bei der Beurteilung gesellschaftlicher Institutionen sind auf vernünftigen Überzeugungen gegründet, die durch gesellschaftlich allgemein anerkannte Untersuchungsmethoden bestätigt wurden.

Der Begriff der Öffentlichkeit hat drei Stufen: (110f.)

1. Die erste Stufe [...] bedeutet, daß die Gesellschaft wirksam von öffentlichen Gerechtigkeitsgrundsätzen reguliert wird, das heißt, alle erkennen dieselben Grundsätze an, wissen voneinander, daß sie dies tun, und dieses Wissen wird wiederum öffentlich anerkannt. Ebenso entsprechen die Institutionen, welche die Grundstruktur der Gesellschaft bilden, tatsächlich diesen Gerechtigkeitsgrundsätzen, und jeder Vernünftige erkennt dies auf der Basis allgemein geteilter Überzeugungen an, die durch Untersuchungsmethoden und Argumentationsweisen bestätigt werden, über deren Angemessenheit für Fragen sozialer Gerechtigkeit man sich einig ist.“ (110)

2. Die zweite Stufe der Öffentlichkeit betrifft die allgemeinen Überzeugungen, in deren Lichte oberste Gerechtigkeitsgrundsätze selbst anerkennt werden können, d. h. die Theorie der menschlichen Natur und, allgemeiner, der sozialen Institutionen. Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft stimmen im großen und ganzen in diesen Überzeugungen überein, insofern sie (wie auf der ersten Stufe) durch öffentlich geteilte Untersuchungsmethoden und Argumentationsweisen, die als angemessen gelten, gestützt werden. Von diesen Methoden und Argumentationsweisen nehme ich an, daß sie vom Common sense her vertraut sind, und daß sie die Verfahren und Ergebnisse der Wissenschaft einschließen, soweit diese hinreichend bestätigt und unumstritten sind.“ (110)

3. Die dritte [...] Stufe der Öffentlichkeit hat mit der vollständigen Rechtfertigung der öffentlichen Gerechtigkeitskonzeption zu tun, wie sie in ihren eigenen Begriffen darzustellen wäre. Die Rechtfertigung umfaßt alles das, was wir (Sie und ich) sagen würden, wenn wir Gerechtigkeit als Fairneß darlegten und darüber nachdächten, warum wir es auf diese und nicht auf jene Weise tun. Auf der dritten Stufe nehme ich an, daß diese vollständige Rechtfertigung ebenfalls öffentlich bekannt ist, oder besser, zumindest öffentlich zugänglich ist; [...].“ (110f.)

„Eine wohlgeordnete Gesellschaft erfüllt, was ich die Bedingung vollständiger Öffentlichkeit nennen werde, sobald alle drei Stufen genommen sind.“ (111)

– Die Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft sind freie und gleiche moralische Personen und betrachten sich selbst und andere in ihren politischen und sozialen Beziehungen als solche. (88)

– Sie sind moralische Personen, insofern sie einen wirksamen Gerechtigkeitssinn besitzen, den sie auch anderen zuschreiben, und ein Verständnis dessen haben, was für sie gut ist. (88f.)

– Aus der Annahme, daß alle einen gleich wirksamen Gerechtigkeitssinn besitzen, folgt, daß das Verhalten von Bürgern einer wohlgeordneten Gesellschaft (mehr oder weniger) untadelig ist. Was sie auch immer tun, es entspricht in der Regel den anerkannten Forderungen der Gerechtigkeit. (123)

– Sie „sind gleich, insofern sie einander das gleiche Recht einräumen, die obersten Gerechtigkeitsgrundsätze [...] festzulegen und [...] zu beurteilen.“ (89)

– Sie sind frei, insofern „sie sich für berechtigt halten, bezüglich der Gestaltung ihrer gemeinsamen Institutionen im Namen ihrer eigenen grundlegenden Ziele und höchstrangigen Interessen Forderungen zu erheben. Als freie Personen betrachten sie sich selbst zugleich als nicht unabänderlich an die Verfolgung bestimmter letzter Ziele gebunden, die sie zu einer gegebenen Zeit haben, sondern vielmehr als fähig, diese Ziele aus vernünftigen und rationalen Gründen zu revidieren und zu ändern.“ (89)

– Sie ist eine fortdauernde Gesellschaft. (108)

– Sie ist eine selbstgenügsame Vereinigung von Menschen, die ein zusammenhängendes Territorium kontrolliert. (108)

– Sie ist ein geschlossenes System ohne wichtige Beziehungen zu anderen Gesellschaften. (109)

– Sie ist ein produktives und fruchtbares System gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Tätigkeiten. (109)

– In ihr herrschen die (objektiven und subjektiven) Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit. (109)

– Alle ihre Bürger sind während ihres gesamten Lebens voll kooperierende Gesellschaftsmitglieder. (122)

Der Begriff der Person

Eine kantische Lehre verbindet „den Inhalt der Gerechtigkeit mit einem bestimmten Begriff der Person, dem gemäß Personen als frei und gleich betrachtet werden, als fähig zu vernünftigem und rationalem Handeln und so zur Teilnahme an sozialer Kooperation mit anderen, ebensolchen Personen. Indem er sich an die öffentliche Kultur einer demokratischen Gesellschaft richtet, hofft der kantische Konstruktivist an eine Konzeption der Person appellieren zu können, die in dieser Kultur stillschweigend bejaht wird, oder sich andernfalls nach angemessener Darstellung und Erklärung den Bürgern als akzeptabel erweisen würde.“ (84f.)

Personen sind gekennzeichnet „durch zwei moralische Vermögen und zwei ihnen korrespondierende höchstrangige Interessen an der Verwirklichung und Ausübung dieser Vermögen“. (93)

Die zwei moralischen Vermögen von Personen (93)

– Die „Anlage zu einem wirksamen Gerechtigkeitssinn, d. h. die Fähigkeit, die Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen, sie anzuwenden und aus ihnen heraus zu handeln (und nicht nur in Übereinstimmung mit ihnen).“ 

– Die „Befähigung, eine Konzeption des Guten auszubilden, zu revidieren und rational zu verfolgen.“

Die zwei höchstrangigen Interessen von Personen: Verwirklichung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen

„Entsprechend den zwei moralischen Vermögen heißt es von moralischen Personen, daß sie zwei höchstrangige Interessen haben, diese Vermögen zu verwirklichen und auszuüben. Indem ich sie »höchstrangig« nenne, will ich zum Ausdruck bringen, daß diese Interessen, so wie die Modellvorstellung einer moralischen Person beschrieben wurde, in höchstem Maße regulativ und wirksam sind. Dies impliziert, daß diese Interessen, wann immer die entsprechenden Umstände vorliegen, Überlegungen und Verhalten beherrschen. Da die Parteien moralische Personen repräsentieren, werden sie ebenfalls durch diese Interessen veranlaßt, die Entwicklung und Ausübung der moralischen Vermögen zu gewährleisten.“ (93f.)

Das höherrangige Interesse von Personen: Ihre Konzeption des Guten zu schützen und voranzubringen

„Überdies nehme ich an, daß die Parteien entwickelte moralische Personen repräsentieren, d. h. Personen, die zu jeder gegebenen Zeit über eine festgelegte Ordnung letzter Ziele verfügen, eine bestimmte Konzeption des Guten. Also definiert die Modellvorstellung moralische Personen auch als bestimmte Personen, obwohl die Parteien, vom Standpunkt des Urzustandes aus, den Inhalt ihrer Konzeption des Guten, d. h. ihre letzten Ziele, nicht kennen. Diese Konzeption führt zu einem dritten Interesse, das die Parteien bewegt: ein höherrangiges Interesse daran, ihre Konzeption des Guten, worin auch immer sie bestehen mag, so gut sie können zu schützen und voranzubringen. Der Grund dafür, daß dies ein höherrangiges und kein höchstrangiges Interesse ist, besteht darin, daß es [...] in wichtiger Hinsicht den höchstrangigen Interessen untergeordnet ist.“ (94)

Freiheit der Personen (119–22)

Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft betrachten sich in drei Hinsichten als frei:

– Sie halten „sich für berechtigt, im Namen ihrer höchstrangigen Interessen und letzten Ziele, wenn diese Ziele innerhalb bestimmter Grenzen liegen, Ansprüche bezüglich der Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen geltend zu machen. Wir können dies ausführen, indem wir sagen: Bürger betrachten sich als selbstschaffende Quellen berechtigter Ansprüche [self-originating sources of valid claims]. [...]. Menschen sind selbstschaffende Quellen von Ansprüchen in dem Sinne, daß ihre Ansprüche ein eigenes Gewicht haben und sich nicht aus vorhergehenden Pflichten oder Verpflichtungen der Gesellschaft oder anderen Personen gegenüber herleiten und schließlich auch nicht ihrer besonderen sozialen Rolle zuzuschreiben oder auf sie zurückzuführen sind.“ (119)

– „Bürger, als freie Personen, [erkennen] einander als befähigt zu einer Konzeption des Guten [an]. Dies bedeutet, daß sie sich nicht als unabänderlich an die Verfolgung der besonderen Konzeption des Guten und ihrer letzten Ziele gebunden fühlen, für die sie zu einer beliebigen Zeit eintreten. Vielmehr werden sie, als Bürger, für fähig gehalten, diese Konzeption aus vernünftigen und rationalen Gründen zu revidieren und zu verändern. So hält man es für zulässig, daß Bürger sich von Konzeptionen des Guten distanzieren, ihre verschiedenen letzten Ziele einer Prüfung unterziehen und sie bewerten; [...]. (120)

– Sie halten sich für frei in dem Sinn, daß sie selbst verantwortlich für ihre Ziele sind. „Sehr allgemein gesprochen bedeutet dies, daß Bürger [...] in der Lage sind, ihre Ziele und Bestrebungen im Lichte dessen, was sie vernünftigerweise erwarten können, anzupassen und ihre Ansprüche im Namen der Gerechtigkeit auf bestimmte Arten von Dingen einzuschränken. Sie erkennen an, daß das Gewicht ihrer Ansprüche nicht durch die Stärke und die Intensität ihrer Wünsche und Bedürfnisse bestimmt wird, selbst dann nicht, wenn diese rational sind.“ (122)

Gleichheit der Personen

„[J]eder einzelne [...] ist gleichermaßen fähig, die öffentliche Gerechtigkeitskonzeption zu verstehen und ihr gemäß zu handeln; alle sind also in der Lage, die Gerechtigkeitsgrundsätze zu achten und ihr Leben lang uneingeschränkt Teilnehmer sozialer Kooperation zu sein. Auf dieser Grundlage, verbunden mit der Tatsache, daß jede Person eine selbstschaffende Quelle gültiger Ansprüche ist, betrachten sich alle als gleichermaßen würdig, in einem Verfahren repräsentiert zu werden, das die Gerechtigkeitsgrundsätze festlegt, welche die grundlegenden Institutionen ihrer Gesellschaft regulieren sollen. Diese Vorstellung gleicher Würde gründet sich auf die bei allen gleichermaßen ausreichend entwickelte Fähigkeit, die öffentliche Konzeption sozialer Kooperation zu verstehen und aus ihr heraus zu handeln.“ (123)

„Bürger sind gleich, insofern sie einander das gleiche Recht einräumen, die obersten Gerechtigkeitsgrundsätze [...] festzulegen und [...] zu beurteilen.“ (89)

Rationale Autontomie der Personen im Urzustand vs. vollständige Autonomie der Personen in der Gesellschaft

„Die rationale Autonomie der Parteien im Urzustand unterscheidet sich von der vollständigen Autonomie der Bürger in der Gesellschaft. So kommt rationale Autonomie den Parteien als Akteuren der Konstruktion zu: es handelt sich hier um einen relativ engen Begriff, der ungefähr dem Kantischen Begriff des hypothetischen Imperativs (oder dem Rationalitätsbegriff der neoklassischen Wirtschaftstheorie entspricht); vollständige Autonomie kommt den Bürgern im alltäglichen Leben zu, insofern sie ein bestimmtes Selbstverständnis haben und die obersten Gerechtigkeitsgrundsätze, auf die man sich einigen würde, bejahen und ihnen gemäß handeln.“ (87f.)

„Rationale Autonomie wird durch die Überlegungen der Parteien als künstliche Akteure der Konstruktion innerhalb des Naturzustands ausgedrückt. Vollständige Autonomie ist der umfassendere Begriff; er bringt ein Ideal der Person zum Ausdruck, das Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft in ihrem sozialen Leben bejahen.“ (107)

Der Urzustand

„[S]eine Rolle besteht darin, die Verbindung zwischen der Modellvorstellung einer moralischen Person und den Gerechtigkeitsgrundsätzen herzustellen, welche die Beziehungen der Bürger in der Modellvorstellung einer wohlgeordneten Gesellschaft kennzeichnen.“ (87)

„Er leistet dies, indem er nachbildet, wie die Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft, verstanden als moralische Personen, idealiter die Gerechtigkeitsgrundsätze für ihre Gesellschaft auswählen.“ (87)
„Die Einschränkungen, denen die Parteien im Urzustand unterworfen sind, und die Weise, in der sie beschrieben werden, repräsentieren die Freiheit und Gleichheit moralischer Personen […].“ (87)

Der Urzustand ist eine Situation, die fair zwischen den Bürgern ist und in der sie ausschließlich als freie und gleiche moralische Personen dargestellt werden. (90)

„[B]ei der Formulierung der Modellvorstellung des Urzustands [müssen wir] die Parteien als solche betrachten [...], die Gerechtigkeitsgrundsätze auswählen, welche als wirksame öffentliche Gerechtigkeitsgrundsätze einer wohlgeordneten Gesellschaft dienen sollen und damit der sozialen Kooperation zwischen Personen, die sich als frei und gleich betrachten.“ (89)

„Insbesondere muß der Begriff der moralischen Person als frei und gleich und die Unterscheidung zwischen rationaler und vollständiger Autonomie in seiner Beschreibung angemessen wiedergegeben werden. Andernfalls kann der Urzustand seine vermittelnde Rolle nicht erfüllen, einen besonderen Begriff der Person mit bestimmten obersten Grundsätzen vermittels eines Verfahrens zu verknüpfen, in dem die Parteien, als rational-autonome Akteure der Konstruktion, Gerechtigkeitsgrundsätze annehmen, deren öffentliche Bejahung durch die Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft im alltäglichen Leben sie in die Lage versetzt, vollständig autonom zu sein.“ (89f.)

Der Urzustand verkörpert reine Verfahrensgerechtigkeit (91)

Die Fairneß der Bedingungen, unter denen die Übereinkunft getroffen wird, überträgt sich auf die Gerechtigkeitsgrundsätze. Da der Urzustand freie und gleiche moralische Personen in eine Situation gegenseitiger Fairneß bringt, ist jede von ihnen angenommene Gerechtigkeitskonzeption ebenfalls fair. (90)
Welche Grundsätze die Parteien auch immer aus der Liste der ihnen vorgelegten alternativen Konzeptionen auswählen, sind gerecht. Das Ergebnis des Urzustands legt die angemessenen Gerechtigkeitsgrundsätze fest. (91)

Durch die Beschreibung des Urzustands als Verkörperung reiner Verfahrensgerechtigkeit können wir erklären, inwiefern die Parteien, als die rationalen Akteure der Konstruktion, auch autonom sind: (91)
Der Gebrauch reiner Verfahrensgerechtigkeit impliziert, daß die Gerechtigkeitsgrundsätze selbst durch einen Überlegungsprozeß konstruiert werden müssen und wir von den Parteien nicht fordern müssen, sie sollten in ihren Überlegungen irgendwelche vorgegebenen Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit anwenden oder sich an sie gebunden fühlen. Außerhalb des Blickwinkels der Parteien selbst gibt es keinen Standpunkt, von dem aus sie in Fragen der Gerechtigkeit durch vorgängige und unabhängige Prinzipien eingeschränkt wären. (91f.)

Grundgüter

Grund für die Einführung von Grundgütern

„Nun stellt der Schleier der Unwissenheit in Anbetracht dieser drei [höchst- und höherrangigen] regulativen Interessen ein Problem: Wie muß der Urzustand aufgebaut sein, damit die Parteien, als Vertreter von Personen mit diesen Interessen, eine rationale Übereinkunft treffen können? An diesem Punkt wird die Konzeption der Grundgüter eingeführt: indem wir festsetzen, daß die Parteien die Gerechtigkeitskonzeption auf der Basis ihrer Präferenz für diese Güter bewerten, statten wir sie, als Akteure der Konstruktion, mit hinreichend konkreten Wünschen aus, so daß ihre rationalen Überlegungen zu einem eindeutigen Ergebnis führen.“ (94)

Natur und Herleitung der Grundgüter

„Wir suchen nach sozialen Hintergrundbedingungen und allgemein dienlichen Mitteln, die normalerweise notwendig sind, um die zwei moralischen Vermögen ausbilden und ausüben zu können und wirksam eine Konzeption des Gut zu verfolgen.“ (94)

Wir identifizieren „Grundgüter, indem wir fragen, welche Dinge als soziale Bedingungen und allgemein dienliche Mittel in der Regel notwendig sind, um Menschen in die Lage zu versetzen, ihre moralischen Vermögen auszubilden und auszuüben sowie ihre letzten Ziele zu verfolgen (von denen angenommen wird, daß sie innerhalb bestimmter Grenzen liegen). Hier müssen wir uns die sozialen Erfordernisse und normalen Bedingungen menschlichen Lebens in einer demokratischen Gesellschaft vor Augen halten. Beachten Sie bitte, daß es der Begriff der moralischen Person mit bestimmten höchstrangigen Interessen ist, durch den festgelegt wird, was im Rahmen der Modellvorstellungen als Grundgut zählt. Daher sind diese Güter nicht als allgemein dienliche Mittel zur Verwirklichung dessen zu verstehen, was eine umfassende empirische oder historische Übersicht als letzte Ziele erweisen könnte, die Menschen gewöhnlich oder normalerweise unter allen sozialen Bedingungen gemeinsam haben. Es mag wenige solcher Ziele geben, wenn es überhaupt welche gibt; und diejenigen, die es gibt, sind vielleicht nicht für die Konstruktion einer uns vernünftig erscheinenden Gerechtigkeitskonzeption zu gebrauchen. Das Verzeichnis der Grundgüter beruht nicht auf dieser Art von allgemeinen Tatsachen, obwohl sie auf allgemeinen sozialen Tatsachen beruht, sobald der Begriff der Person und ihre höchstrangigen Interessen feststehen (hier sollte ich anmerken, daß ich, indem ich die Konzeption der Grundgüter von einem bestimmten Begriff der Person abhängig mache, die Bemerkungen in Eine Theorie der Gerechtigkeit revidiere, wo es so erscheinen mag, als werde das Verzeichnis der Grundgüter als das Ergebnis einer rein psychologischen, statistischen oder historischen Untersuchung aufgefaßt).“ (95f.)

Fünf Arten von Grundgütern und ihre Beziehung zu den moralischen Vermögen von Personen

„Eine sehr kurze Erklärung der Präferenzen der Parteien für die in Eine Theorie der Gerechtigkeit aufgeführten Grundgüter ist daher diese:
(i) Die Grundfreiheiten (Gedankenfreiheit, Gewissensfreiheit usw.) sind notwendige Hintergrundinstitutionen für die Ausbildung und Ausübung der Fähigkeit, aufgrund einer Konzeption des Guten zu entscheiden, sie zu revidieren und rational zu verfolgen. In ähnlicher Weise erlauben diese Freiheiten die Entwicklung und Ausübung des Sinnes für Recht und Gerechtigkeit unter freien gesellschaftlichen Bedingungen.
(ii) Freizügigkeit und freie Berufswahl vor einem Hintergrund verschiedener Möglichkeiten sind für die Verfolgung letzter Ziele erforderlich und ermöglichen es, Entscheidungen wirksam zu revidieren und zu ändern, wenn dies gewünscht wird.
(iii) Mit verantwortungsvollen Ämtern und Positionen verbundene Befugnisse und Vorrechte sind notwendig, um den verschiedenen selbstregulierenden und sozialen Fähigkeiten des Selbst Entfaltungsmöglichkeiten zu geben.
(iv) Einkommen und Besitz (so allgemein verstanden, wie es nötig ist) sind allgemein dienliche Mittel (da sie einen Tauschwert haben) zur direkten oder indirekten Verwirklichung fast aller unserer Ziele, worin diese auch immer bestehen mögen.
(v) Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung sind diejenigen Aspekte grundlegender Institutionen, die normalerweise notwendig dafür sind, daß Individuen einen lebendigen Sinn ihres eigenen Wertes als moralische Personen haben und in der Lage sind, ihre höherrangigen Interessen zu verwirklichen und ihre Ziele mit Elan und Selbstvertrauen zu verfolgen.“ (95)

Grundgüter, Autonomie der Personen und Egoismus

Die rationale Autonomie hängt „sicherlich teilweise von den Interessen [ab], welche die Parteien bewegen, und nicht allein von ihrer Ungebundenheit gegenüber vorgängigen und unabhängigen Rechtsprinzipien. Hätten die Parteien nur untergeordnete Beweggründe, z.  B. Essen und Trinken oder bestimmte konkrete Vorlieben für diese oder jene Gruppe von Personen, Vereinigungen oder Gemeinschaften, dann würden wir sie als heteronom und nicht autonom ansehen. Jedoch entspringt der Wunsch nach Grundgütern den höchstrangigen Interessen moralischer Personalität und dem Bedürfnis, die jeweilige Konzeption des Guten (worin auch immer sie bestehen mag) abzusichern. Die Parteien versuchen also nur die erforderlichen Bedingungen für die Ausübung ihrer moralischen Vermögen, die sie als moralische Personen kennzeichnen, zu gewährleisten und zu verbessern. Diese Motivation ist gewiß weder heteronom noch ich-bezogen: wir erwarten und verlangen von den Menschen, daß ihnen ihre Freiheiten und Chancen zur Verwirklichung dieser Vermögen nicht gleichgültig sind, und wir glauben, daß es ein Zeichen mangelnder Selbstachtung und charakterlicher Schwäche wäre, dies nicht zu tun. Die Annahme, daß die Parteien gegenseitig desinteressiert sind und folglich danach trachten, ihre eigenen höchstrangigen Interessen zu sichern [...], sollte daher nicht mit Egoismus verwechselt werden.“ (96f.)

Es ist „zwar wahr, daß die Parteien im Urzustand gegenseitig desinteressiert sind und die Gerechtigkeitsgrundsätze in Begriffen von Grundgütern bewerten, doch werden sie in erster Linie durch ihre höchstrangigen Interessen an der Ausbildung und Ausübung ihrer moralischen Vermögen bewegt; das Verzeichnis der Grundgüter und der Index dieser Güter müssen so weit wie möglich unter Verweis auf diese Interessen erklärt werden. Da diese Interessen als Konkretisierung ihrer Bedürfnisse als moralische Personen aufgefaßt werden müssen, sind die Ziele der Parteien nicht egoistisch, sondern durchweg passend und angemessen. Es stimmt mit der in demokratischen Gesellschaften vertretenen Auffassung von freier Personalität überein, daß Bürger sowohl die Bedingungen für die Verwirklichung und Ausübung ihrer moralischen Vermögen sichern sollten, als auch die sozialen Grundlagen und Mittel ihrer Selbstachtung.“ (102)

Repräsentation der Modellvorstellungen im Urzustand

„[D]er Leitgedanke bei der Repräsentation von Personen ist, daß die Parteien als Akteure der Konstruktion im Urzustand bei der Annahme von Grundsätzen so weit wie möglich allein durch Bedingungen eingeschränkt oder beeinflußt werden sollten, welche unter das Vernünftige und Rationale fallen, und welche die Freiheit und Gleichheit moralischer Personen widerspiegeln. Der Urzustand dient dabei dazu, auf die denkbar deutlichste Weise eine Verbindung herzustellen zwischen dem Selbstverständnis der Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft und dem Inhalt ihrer öffentlichen Gerechtigkeitskonzeption.“ (131)

Repräsentation der Freiheit der Personen

„[D]ie Freiheit der Personen als selbstschaffende Quellen von Ansprüchen [ist] dadurch repräsentiert, daß die Parteien die Ansprüche, die sie vorzubringen wünschen, nicht rechtfertigen müssen. Gleichgültig, ob sie als Bürger sich selbst vertreten oder als Treuhänder agieren, sie haben die Freiheit, im Interesse eines jeden zu handeln, den sie innerhalb des Rahmens der in den Urzustand eingebetteten vernünftigen Einschränkungen vertreten. Es gehört zur rationalen Autonomie der Parteien, daß es keine schon gegebenen, vorgängigen und für sie bindenden Grundsätze gibt, die außerhalb ihres Standpunktes liegen. Die Interessen, die sie zu fördern suchen, müssen nicht aus irgendeiner vorgängigen Pflicht oder Verpflichtung hergeleitet werden, weder anderen Personen noch der Gesellschaft gegenüber. Die Parteien erkennen auch nicht bestimmte intrinsische Werte als durch rationale Anschauung erkannt an [...].So wird Freiheit als Quelle von Ansprüchen dargestellt.“ (125)

Repräsentation der Gleichheit der Personen

„Die Repräsentation der Gleichheit ist unproblematisch: wir beschreiben einfach alle Parteien auf dieselbe Weise und stellen sie gleich, d. h. symmetrisch zueinander. Jede hat in dem Verfahren, das zur Übereinkunft führen soll, die gleichen Rechte und die gleiche Macht. Nun ist es wesentlich für Gerechtigkeit als Fairneß, daß der Urzustand fair ist zwischen gleichen moralischen Personen, so daß diese Fairneß sich auf die angenommenen Grundsätze übertragen kann. Vergegenwärtigen wir uns also, warum vom Urzustand gesagt wird, daß er fair sei.
Zunächst fassen wir die Grundstruktur der Gesellschaft als ersten Gegenstand der Gerechtigkeit auf. Sodann sagen wir, daß zur Festlegung der obersten Grundsätze für diesen Bereich die einzige relevante Eigenschaft der Menschen ein Mindestmaß an Entwicklung des Vermögens moralischer Personalität ist (wie es durch die beiden moralischen Vermögen ausgedrückt wird) [...]. Schließlich nehmen wir an, daß Personen, die in allen relevanten Hinsichten gleich sind, auch gleich repräsentiert werden müssen. Diese Voraussetzungen garantieren, daß der Urzustand fair ist zwischen gleichen moralischen Personen, und er daher richtig darstellt, wie die Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft einander sehen.“ (128f.)

Die Freiheit und Gleichheit der moralischen Personen wird repräsentiert durch den Schleier des Nichtwissens. Ohne den Schleier des Nichtwissens würden „die Parteien nicht ausschließlich als freie und gleiche moralische Personen repräsentier[t], sondern statt dessen als Personen, die darüber hinaus auch durch ihr gesellschaftliches Los und durch natürliche Zufälligkeiten beeinflußt sind.“ (90f.)

Rationale Autonomie der Parteien im Urzustand

„Die Parteien als rationale Akteure der Konstruktion werden im Urzustand in zweierlei Hinsicht als autonom bezeichnet:“ (97)

– Von ihnen wird „nicht verlangt, daß sie in ihren Überlegungen irgendwelche vorgängigen und vorgegebenen Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien anwenden oder sich von ihnen leiten lassen.“ (97) Es steht ihnen frei, „jeder ihnen verfügbaren Gerechtigkeitskonzeption zuzustimmen, wenn sie durch die rationale Beurteilung der für ihre Interessen wahrscheinlich förderlichsten Alternative dazu veranlaßt werden. Sie sollen sich so entscheiden, wie es die Grundsätze der Rationalität unter Berücksichtigung der Lage, in der sie sich befinden, vorschreiben.“ (92f.) Dieser Aspekt der Autonomie drückt sich durch den Gebrauch der reinen Verfahrensgerechtigkeit aus. (97)

– Sie werden „allein durch ihr Vermögen und ihr Bestreben bewegt [...], ihre feststehenden, aber unbekannten letzten Ziele zu fördern. Die Konzeption der Grundgüter und ihre Herleitung vermitteln diese Seite der Autonomie. Aufgrund des Schleiers der Unwissenheit können die Parteien nur durch diese höchstrangigen Interessen bewegt werden, die sie wiederum durch die Präferenzen für Grundgüter konkretisieren müssen.“ (97)

Vollständige Autonomie der Bürger in der Gesellschaft und dessen Repräsentation im Urzustand

„[A]uch wenn dieser Begriff nur von Bürgern einer wohlgeordneten Gesellschaft in ihrem täglichen Leben verwirklicht wird, müssen seine wesentlichen Merkmale angemessen im Urzustand repräsentiert sein: Denn die Bürger erlangen dadurch vollständige Autonomie, daß sie die in dieser Situation angenommenen obersten Grundsätze bejahen und die Art und Weise, in der man sich auf sie geeinigt hat, öffentlich anerkennen und dadurch, daß sie nach diesen Grundsätzen so handeln, wie es ihr Gerechtigkeitssinn vorschreibt.“ (87f.)

Die vollständige Autonomie wird nicht durch die Beschreibung der Überlegungen und Beweggründe der Parteien ausgedrückt, denn diese sind nur rational autonom. (98)

Zwei Elemente jedes Begriffs sozialer Kooperation: das Vernünftige und das Rationale (98–101)

Das Vernünftige: „Das erste ist eine Konzeption fairer Bedingungen der Kooperation, d. h. solcher Bedingungen, von denen man erwarten darf, das jeder Teilnehmer sie vernünftigerweise anerkennt, vorausgesetzt, alle anderen erkennen sie ebenfalls an. Faire Bedingungen der Kooperation artikulieren einen Begriff der Wechselseitigkeit oder Gegenseitigkeit: alle, die kooperieren, müssen daraus Vorteil ziehen und die gemeinsamen Belastungen in angemessener Form (nach Vergleich anhand eines geeigneten Maßstabs) teilen. Dieses Element sozialer Kooperation nenne ich das Vernünftige.“ (98)

Das Rationale: „Das andere Element entspricht dem Rationalen: es ist Ausdruck einer Konzeption des rationalen Vorteils der einzelnen Teilnehmer, dessen, was sie als Individuen zu erreichen trachten. Wie wir sahen, wird das Rationale im Urzustand als auf das Streben von Personen nach der Entwicklung und Ausübung ihrer moralischen Vermögen und Förderung ihrer Konzeption des Guten bezogen interpretiert. Eine Charakterisierung der höchstrangigen Interessen der Parteien vorausgesetzt, sind sie in ihren Überlegungen insoweit rational, als sie sich bei ihren Entscheidungen von angemessenen Grundsätzen rationaler Wahl leiten lassen.“ (98)

Repräsentation des Vernünftigen im Urzustand

„Diese Repräsentation geschieht im wesentlichen durch die Art der Einschränkungen, denen die Überlegungen der Parteien unterliegen und die deren Stellung zueinander bestimmen. Das Vernünftige gehört zum Hintergrund des Urzustands, der den Rahmen für die Beratungen der Parteien bildet und sie einander gleichstellt. Genauer, über verschiedene vertraute formale Bedingungen für oberste Grundsätze hinaus (wie Allgemeinheit und Universalität, Rangordnung und Endgültigkeit) wird von den Parteien verlangt, daß sie eine öffentliche Gerechtigkeitskonzeption annehmen und deren oberste Grundsätze im Hinblick auf diese Bedingungen beurteilen.“ (99)

„Im Urzustand betrachten wir also das Vernünftige als durch den Rahmen der Einschränkungen ausgedrückt, innerhalb dessen die Überlegungen der Parteien (als rational autonome Akteure der Konstruktion) stattfinden. Die Öffentlichkeitsbedingung, der Schleier der Unwissenheit, die symmetrische Stellung der Parteien zueinander und die Forderung, daß die Grundstruktur der erste Gegenstand der Gerechtigkeit ist [vgl. 99f.], sind für diese Einschränkungen repräsentativ. Vertraute Gerechtigkeitsgrundsätze sind Beispiele vernünftiger Grundsätze, und vertraute Prinzipien rationaler Entscheidung sind Beispiele rationaler Grundsätze. Die Art und Weise, wie das Rationale im Urzustand repräsentiert ist, führt zu den zwei Gerechtigkeitsgrundsätzen. Diese Grundsätze konstruiert Gerechtigkeit als Fairneß als Inhalt des Vernünftigen für die Grundstruktur einer wohlgeordneten Gesellschaft.“ (100f.)

Repräsentation der Öffentlichkeitsbedingung

„Tatsächlich ist die Repräsentation der Öffentlichkeitsbedingung (auf jeder Stufe) recht direkt: wir verlangen einfach von den Parteien als Akteuren der Konstruktion, daß sie Gerechtigkeitskonzeptionen mit der Vorgabe beurteilen, daß die Grundsätze, denen sie zustimmen, als öffentliche Gerechtigkeitskonzeption im geforderten Sinne gelten müssen. Grundsätze, die recht gut funktionieren könnten, vorausgesetzt, sie würden nicht öffentlich anerkannt (wie auf der ersten Stufe definiert), oder vorausgesetzt, die allgemeinen Überzeugungen, auf die sie gegründet sind, würden nicht öffentlich verstanden oder als fehlerhaft angesehen (wie auf der zweiten Stufe definiert), müssen zurückgewiesen werden. Also müssen die Parteien die sozialen und psychologischen Konsequenzen verschiedener Arten öffentlichen Wissens vor einem bestimmten Hintergrund gemeinsamer Überzeugungen beurteilen, und die Konsequenzen werden Einfluß darauf haben, welche Gerechtigkeitskonzeption sie, alles in allem, annehmen.“ (114f.)

Drei Standpunkte

Es ist wichtig drei Standpunkte zu unterscheiden: (105)
– den Standpunkt der Parteien im Urzustand
– den von Bürgern in einer wohlgeordneten Gesellschaft
– unseren eigenen Standpunkt – hier und jetzt.

„Die ersten beiden Standpunkte bilden innerhalb der Gerechtigkeitslehre zwei Bestandteile ihrer Modellvorstellungen.“ (105)
„Der dritte Standpunkt [...] ist der, von dem aus Gerechtigkeit als Fairneß sowie jede andere Lehre beurteilt werden muß. Hier ist der Test das allgemeine und umfassende Überlegungsgleichgewicht, d.  h. wie gut die Ansicht sich insgesamt in unsere festeren wohlerwogenen Überzeugungen einfügt und sie artikuliert, und zwar auf allen Stufen der Allgemeinheit, nach gebührender Prüfung, und sobald alle überzeugend erscheinenden Anpassungen und Veränderungen vorgenommen worden sind. Eine Lehre, die diesem Kriterium genügt, ist die Lehre, die, soweit wir dies feststellen können, die vernünftigste für uns ist.“ (105f.)

 

Anmerkung: Fette Hervorhebungen in Zitaten stammen von mir.