Thomas von Aquin über Töten bei der Selbstverteidigung

Anmerkung zum Aufbau des Artikels:

„Alle Fragen (quaestiones) sind bei Thomas und in der Scholastik ähnlich gebaut. Zunächst werden Einwände gegen die These vorgebracht, die später von Thomas begründet und verteidigt werden wird. Diese sind also nicht als thomasische zitierbar! Daran schließt sich in der Summa theologiae ein Gegenargument, meist aus einem klassischen Text (auctoritas) genommen; […]. Erst dann stellt Thomas nach dem Stichwort „Antwort“ seine eigene These vor und begründet sie. Zuletzt werden die eingangs angeführten Einwände ausgeräumt.“

Rolf Schönberger in: Thomas von Aquin, Über sittliches Handeln. Summa theologiae I–II q. 18–21, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Rolf Schönberger, Stuttgart 2001, S. 207, Anm. 1

 

Thomas von Aquin, Summa theologica 2–2, q. 64 a.7[1]


7. ARTIKEL

Ist es einem in der Selbstverteidigung erlaubt, einen anderen zu töten?

1. Augustinus sagt: „Der Rat, Menschen zu töten, damit nicht durch sie jemand getötet werde, kann mir nicht gefallen, außer es handle sich um einen Soldaten oder um die öffentliche Gewalt, so daß er nicht für sich handelt, sondern für andere, auf Grund einer gesetzlich verliehenen Macht, so sie seiner Person entspricht.“ Wer aber bei der Selbstverteidigung jemanden tötet, tötet ihn nur deshalb, um nicht von ihm getötet zu werden. Das scheint also unerlaubt zu sein.

2. Augustinus sagt: „Wie sollen die vor der göttlichen Vorsehung von Sünden frei sein, die sich für das, was sie verachten sollten, mit der Makel eines Menschenmordes beflecken?“ Das aber sei zu verachten, meint er, „was die Menschen wider Willen verlieren können“, wie aus dem Zusammenhang erhellt. Dazu gehört das leibliche Leben. Also ist es keinem erlaubt, zur Rettung des leiblichen Lebens einen Menschen zu töten.

3. Papst Nikolaus [I.] sagt – das Wort findet sich auch in den Dekreten –: „Bezüglich der Kleriker, nämlich jener, die bei der Selbstverteidigung einen Heiden getötet haben, wegen deren Du Meinen Rat erbeten hast, ob sie nach verrichteter Buße wieder in ihren früheren Stand zurückkehren oder in einen höheren aufrücken könnten, magst Du wissen, daß Wir ihnen keine Gelegenheit geben noch ihnen irgendwelche Erlaubnis erteilen, irgendwelche Menschen auf welche Weise immer zu töten.“ Zur Beobachtung der Sittengesetze aber sind in gleicher Weise Kleriker wie Laien gehalten. Also ist es auch den Laien nicht erlaubt, bei der Selbstverteidigung einen anderen zu töten.

4. Mord ist größere Sünde als einfache Unzucht oder Ehebruch. Es ist aber keinem erlaubt, einfache Unzucht oder Ehebruch oder sonst irgendeine schwere Sünde zu begehen, um das eigene Leben zu retten. Denn das geistliche Leben ist dem leiblichen vorzuziehen. Also ist es keinem erlaubt, in der Selbstverteidigung einen anderen zu töten, um das eigene Leben zu retten.

5. Wenn der Baum schlecht ist, ist es auch die Frucht (Mt 7, 17 f.). Die eigene Verteidigung aber scheint schon in sich unerlaubt, nach Röm 12, 19: „Ihr sollt euch nicht selbst verteidigen, Geliebteste“. Also ist auch die Tötung eines Menschen, die daraus hervorgeht, unerlaubt.
ANDERERSEITS heißt es Ex 22, 2: „Wenn ein Dieb beim Einbrechen in ein Haus oder bei der Untergrabung desselben betroffen wird und infolge Verwundung stirbt, soll der, der ihn erschlagen, keine Blutschuld haben.“ Es ist aber viel eher erlaubt, das eigene Leben zu verteidigen als das eigene Haus. Also ist der, der zur Verteidigung seines Lebens einen anderen tötet, nicht des Mordes schuldig.
ANTWORT: Es steht nichts im Wege, daß ein und dieselbe Handlung zwei Wirkungen hat, von denen nur die eine beabsichtigt ist, während die andere außerhalb der [eigentlichen] Absicht liegt. Die sittlichen Handlungen aber empfangen ihre Eigenart von dem, was beabsichtigt ist, nicht aber von dem, was außerhalb der Absicht liegt, da es zufällig ist (43, 3: Bd. 17; I–II 72, 1: Bd. 12). So kann auch aus der Handlung dessen, der sich selbst verteidigt, eine doppelte Wirkung folgen: die eine ist die Rettung des eigenen Lebens; die andere ist die Tötung des Angreifers. Eine solche Handlung hat auf Grund der Absicht, die auf die Rettung des eigenen Lebens geht, nichts Unerlaubtes; denn das ist jedem Wesen naturhaft, daß es sich, soweit es nur irgend kann, im Sein erhält.

Es kann aber eine Handlung, die aus einer guten Absicht hervorgeht, unerlaubt werden, wenn sie dem Ziel nicht angemessen ist. Wenn daher jemand zur Verteidigung des eigenen Lebens größere Gewalt anwendet als nötig ist, so ist das unerlaubt. So er sich aber im Widerstand gegen die Gewalt mäßigt, ist die Verteidigung erlaubt; denn nach dem Recht „ist es erlaubt, Gewalt mit Gewalt zurückzuweisen, allerdings mit abgewogener, schuldfreier Schutzmaßnahme“. Auch ist es zum Heile nicht notwendig, daß der Mensch auf den Akt des maßvollen Schutzes verzichtet, um die Tötung des anderen zu vermeiden; denn der Mensch ist mehr gehalten, für das eigene Leben als für das fremde Leben zu sorgen.

Weil es aber nur der öffentlichen Gewalt um des Gemeinwohles willen erlaubt ist, einen Menschen zu töten (Art. 3), ist es nicht erlaubt, daß der Mensch die Tötung eines Menschen beabsichtigt, um sich selbst zu verteidigen, außer er sei Inhaber der öffentlichen Gewalt, der bei der Absicht, einen Menschen zur eigenen Verteidigung zu töten, das auf das öffentliche Wohl hinordnet; wie das offenbar ist bei dem Soldaten, der gegen den Feind kämpft, und bei dem Gerichtsdiener, der gegen die Räuber kämpft. Wenngleich auch diese sündigen würden, falls sie sich dabei von persönlicher Leidenschaft leiten ließen [27].

Zu 1. Die Worte Augustins gelten für den Fall, daß einer einen Menschen tötet, um sich selbst vom Tode zu befreien.
Auch das aus dem Buch „Über die Freiheit des Wahlvermögens“ angeführte Wort gilt nur für diesen Fall. Deshalb heißt es ausdrücklich: „Für diese Fälle“, wodurch die Absicht bezeichnet wird. Daraus ergibt sich die Antwort Zu 2.
Zu 3. Weiheunwürdigkeit folgt auf die Tat der Tötung, auch wenn sie ohne Sünde geschieht, wie das offenbar ist bei dem Richter, der gerechterweise einen zum Tode verurteilt. Deshalb ist der Kleriker, der in der Selbstverteidigung einen tötet, weiheunwürdig, auch wenn er nicht die Absicht hatte zu töten, sondern nur sich zu verteidigen [28].
Zu 4. Unzucht oder Ehebruch sind nicht notwendig auf die Rettung des eigenen Lebens hingeordnet wie eine Handlung, aus der unter Umständen eine Tötung hervorgeht [29].
Zu 5. Dort [Röm 12, 19] wird nur jene Selbstverteidigung verboten, die mit dem Gedanken an Rache verbunden ist. Deshalb sagt die Glosse: „Ihr sollt euch nicht verteidigen – das heißt, ihr sollt euren Gegnern nicht vergelten.“

Thomas von Aquin, Summa theologica 2–2, q. 64 a.7
Zitiert nach: Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa theologica, hrsg. von der Albertus-Magnus-Akademie Walberberg bei Köln, Bd. 18, Heidelberg 1953, S. 172–76.

Lateinischer Text des Projekts Corpus Thomisticum: secunda pars secundae partis a quaestione LXI ad LXXVIII



[1]   Entstanden 1265–1273 (Thomas von Aquin: 1225 (?) – 1274). Die Zusätze in eckigen Klammern im folgenden Text entstammen dem Original.