Direkter vs. indirekter Handlungskonsequentialismus

Das handlungskonsequentialistische Richtigkeitskriterium

Eine Handlung ist moralisch richtig genau dann, wenn es keine andere (in dieser Situation mögliche) Handlung mit besseren Konsequenzen gibt.

könnte man umformulieren zu folgendem Gebot, das in jeder Situation als Handlungsanweisung bzw. Entscheidungskriterium dienen könnte:

HKD-EK: Führe in jeder Situation nur diejenige Handlung aus, zu der es keine andere (in dieser Situation mögliche) Handlung mit besseren Konsequenzen gibt.
Ausführlicher: Finde in jeder Situation zunächst heraus, welche Konsequenzen jede in dieser Situation mögliche Handlung hat, und führe dann diejenige Handlung aus, zu der es keine andere Handlung mit besseren Konsequenzen gibt.

Einen Handlungskonsequentialismus mit diesem Entscheidungskriterium bezeichnet man als direkten Handlungskonsequentialismus. Er ist direkt insofern man bei moralischen Entscheidungen das (als Gebot umformulierte) Richtigkeitskriterium direkt als Handlungsanweisung bzw. Entscheidungskriterium anwenden soll.

Gegen dieses Entscheidungskriterium gibt es allerdings zahlreiche Einwände, die darauf hinauslaufen, daß es nicht zu den besten Konsequenzen führt, wenn jeder in jeder Situation dieses Entscheidungskriterium anwendet und entsprechend handelt. Aufgrund dieser Einwände ist (fast?) kein Handlungskonsequentialist der Auffassung, daß das handlungskonsequentialistische Richtigkeitskriterium auch als Entscheidungskriterium dienen soll. Stattdessen soll man folgendes Entscheidungskriterium anwenden:

HKI-EK: Von außergewöhnlichen Situationen abgesehen, handle in jeder Situation nach moralischen Regeln.

Um das Entscheidungskriterium anwenden zu können, muß natürlich noch bestimmt werden, nach welchen moralischen Regeln man handeln soll. Diese Formulierung von HKI-EK soll nur die allgemeine Form des Entscheidungskriteriums ausdrücken und den Unterschied zu HKD-EK hervorheben: Anders als HKD-EK verlangt dieses Entscheidungskriterium nicht, in jeder Situation die Handlung mit den besten Konsequenzen herauszufinden und auszuführen. Man soll vielmehr - anstelle eines solchen Bewertens und Vergleichens aller möglichen Konsequenzen - nur die für die jeweilige Situation einschlägige moralische Regel anwenden. (Die Frage, ob die Anwendung der einschlägigen moralischen Regel im konkreten Fall zu den besten Konsequenzen führt, soll man sich - von außergewöhnlichen Situationen abgesehen - nicht stellen.)

Nach welchen Regeln soll man handeln? Aus der konsequentialistischen Grundidee, daß es in der Moral um die Maximierung des Guten geht, folgt, daß man nach denjenigen Regeln handeln soll, die die besten Konsequenzen haben. Hierbei ist noch offen, wie dies genauer zu verstehen ist, z. B. ob mit den Konsequenzen von Regeln die Konsequenzen der Befolgung der Regeln oder die Konsequenzen der Akzeptanz der Regeln gemeint sind. Ohne hierauf näher einzugehen, nehme ich an, daß folgendes Entscheidungskriterium plausibel ist:

HKI-EK1: Von außergewöhnlichen Situationen abgesehen, handle in jeder Situation nach den Regeln desjenigen Moralkodex, dessen allgemeine Akzeptanz die besten Konsequenzen hat.

Da es schwierig bis unmöglich ist, zu bestimmen, welche Regeln diesem Kriterium genügen, begnügen sich die meisten Konsequentialisten mit folgendem Entscheidungskriterium:

HKI-EK2: Von außergewöhnlichen Situationen abgesehen, handle in jeder Situation nach den altbewährten Regeln unserer Alltagsmoral.

Einen Handlungskonsequentialismus mit HKI-EK (bzw. Varianten davon, wie HKI-EK1 oder HKI-EK2) bezeichnet man als indirekten Handlungskonsequentialismus. Er ist indirekt insofern man bei moralischen Entscheidungen nicht das (als Gebot umformulierte) Richtigkeitskriterium direkt als Handlungsanweisung bzw. Entscheidungskriterium anwenden soll, sondern sich stattdessen an moralische Regeln halten soll.

Der direkte und der indirekte Handlungskonsequentialismus haben also beide das gleiche Richtigkeitskriterium und unterscheiden sich nur in ihrem Entscheidungskriterium.

Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Gemeinsamkeit und die Unterschiede beider Theorien:

  Direkter Handlungskonsequentialismus Indirekter Handlungskonsequentialismus
Richtigkeitskriterium Eine Handlung ist moralisch richtig genau dann, wenn es keine andere (in dieser Situation mögliche) Handlung mit besseren Konsequenzen gibt.
Entscheidungskriterium Führe in jeder Situation nur diejenige Handlung aus, zu der es keine andere (in dieser Situation mögliche) Handlung mit besseren Konsequenzen gibt. Von außergewöhnlichen Situationen abgesehen, handle in jeder Situation nach moralischen Regeln (und zwar nach den Regeln desjenigen Moralkodex, dessen allgemeine Akzeptanz die besten Konsequenzen hat bzw. nach den altbewährten Regeln unserer Alltagsmoral).
  Richtigkeits- und Entscheidungskriterium fallen zusammen. Richtigkeits- und Entscheidungskriterium unterscheiden sich.
Der direkte Handlungskonsequentialismus ist einstufig. Der indirekte Handlungskonsequentialismus ist zweistufig:
1. Anhand eines konsequentialistischen Kriteriums werden die Regeln ausgewählt.
2. Die auf der ersten Stufe ausgewählten Regeln bestimmen, was man tun soll.
  Die Regeln bestimmen nur, was man tun soll, sie bestimmen nicht, welche Handlung richtig ist.
  Es kann der Fall eintreten, daß die korrekte Befolgung einer moralischen Regel zu einer falschen Handlung führt.