Der Urzustand

Die Gerechtigkeit als Fairneß besteht aus zwei Teilen: „(1) einer Konkretisierung des Urzustands und des in ihm vorliegenden Entscheidungsproblems, und (2) einem System von Grundsätzen, die, so behauptet man, anerkannt würden. Man kann jeden der beiden Teile [...] ohne den anderen akzeptieren.“ (TG 32)[1]

I. Bedingungen im Urzustand (Konkretisierung des Urzustands)

Wissen um die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit:

Die Menschen im Urzustand wissen, daß in ihrer Gesellschaft die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit vorliegen. „Die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit liegen vor, wenn Menschen konkurrierende Ansprüche an die Verteilung gesellschaftlicher Güter bei mäßiger Knappheit stellen.“ (TG 150)
Objektive Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit: Mäßige Knappheit an Gütern.
Subjektive Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit: Interessengegensätze.

Formale Bedingungen des Begriffs des Rechten:

Die im Urzustand zu wählenden Gerechtigkeitsgrundsätze müssen folgenden Bedingungen genügen:

Allgemeinheit. Man muß die Grundsätze „ohne das formulieren können, was man intuitiv als Eigennamen ansehen würde, und ohne verkappte Kennzeichnungen.“ (TG 154)

Unbeschränkte Anwendbarkeit. Die Grundsätze „müssen für jedermann als moralisches Subjekt gelten. Ich nehme also an, daß jeder diese Grundsätze verstehen und in seine Überlegungen einbeziehen kann. Das setzt ihrer Kompliziertheit eine unspezifische Grenze, ebenso der Art und Anzahl der in sie eingehenden Untercheidungen. Außerdem scheiden Grundsätze aus, deren Befolgung durch jedermann ein Widerspruch wäre, sich selbst aufheben würde. Ein Grundsatz ist ferner unzulässig, wenn seine Befolgung nur vernünftig ist, falls andere einem anderen folgen. Die Grundsätze sind im Hinblick darauf zu wählen, daß jeder sie befolgt.“ (TG 155)

Öffentlichkeit. „Die Parteien gehen davon aus, daß sie die Grundsätze einer öffentlichen Gerechtigkeitsvorstellung festzusetzen haben. Sie gehen davon aus, daß jeder alles über diese Grundsätze weiß, was er wüßte, wenn sie durch Übereinkunft anerkannt worden wären. [...] Die Öffentlichkeitsbedingung läuft darauf hinaus, daß die Parteien Gerechtigkeitsvorstellungen als öffentlich anerkannte und voll wirksame moralische Leitlinien des gesellschaftlichen Lebens beurteilen.“ (TG 155f.)

Rangordnung. Eine Vorstellung des Rechten muß „konkurrierende Ansprüche in eine Rangordnung bringen [...]. Diese Forderung ergibt sich unmittelbar daraus, daß die Grundsätze konkurrierende Ansprüche regeln sollen. [...] Eine Vorstellung vom Rechten sollte offenbar vollständig sein, d.  h. alle Ansprüche ordnen können, die überhaupt (oder mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Praxis) entstehen können.“ (TG 156f.)

Endgültigkeit. „Die Parteien sollen das System der Grundsätze als letzte Instanz für das praktische Denken einsetzen. Es gibt keine übergeordneten Maßstäbe, auf die man sich zur Begründung von Ansprüchen berufen könnte; eine Anwendung dieser Grundsätze führt zu einem endgültigen Ergebnis. [...] Das ganze System ist in dem Sinne endgültig, daß eine Frage entschieden ist, wenn das von ihm bestimmte praktische Denken zu einem Schluß gekommen ist.“ (TG 158)

Kenntnisse der Menschen im Urzustand:

Unkenntnis von Einzeltatsachen: Schleier des Nichtwissens. „Es wird also angenommen, daß den Parteien bestimmte Arten von Einzeltatsachen unbekannt sind. Vor allem kennt niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klasse oder seinen Status; ebensowenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz, Körperkraft usw. Ferner kennt niemand seine Vorstellung vom Guten, die Einzelheiten seines vernünftigen Lebensplanes, ja nicht einmal die Besonderheiten seiner Psyche wie seine Einstellung zum Risiko oder seine Neigung zu Optimismus oder Pessimismus. Darüber hinaus setze ich noch voraus, daß die Parteien die besonderen Verhältnisse in ihrer eigenen Gesellschaft nicht kennen, d. h. ihre wirtschaftliche und politische Lage, den Entwicklungsstand ihrer Zivilisation und Kultur. Die Menschen im Urzustand wissen auch nicht, zu welcher Generation sie gehören.“ (TG 160)

   Der Schleier des Nichtwissens garantiert die Fairneß des Urzustands. Er verhindert, daß die Menschen im Urzustand versuchen, „gesellschaftliche und natürliche Umstände zu ihrem Vorteil auszunutzen“ (TG 159) und Grundsätze durchzusetzen versuchen, die ihrem persönlichen Vorteil dienen. Da niemand etwas über sich selbst weiß, kann niemand zu eigenen Gunsten parteilich sein und somit ist die Unparteilichkeit aller Erwägungen im Urzustand gesichert.

   Der Schleier des Nichtwissens garantiert die Einstimmigkeit der Entscheidung für die Gerechtigkeitsgrundsätze. „Zunächst liegt auf der Hand, daß alle Beteiligten von den gleichen Argumenten überzeugt werden, da sie die Unterschiede zwischen sich nicht kennen und alle gleich vernünftig und in der gleichen Lage sind. Daher läßt sich die Übereinkunft im Urzustand als die eines zufällig ausgewählten Beteiligten sehen. Wenn irgend jemand nach reiflicher Überlegung eine Gerechtigkeitsvorstellung einer anderen vorzieht, dann tun es alle, und es kommt Einstimmigkeit zustande.“ (TG 162)

Kenntnis allgemeiner Tatsachen. „Die Parteien kennen also nach Möglichkeit an Einzeltatsachen nur dies, daß ihre Gesellschaft die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit aufweist und alles, was damit zusammenhängt. Selbstverständlich aber sollen sie die allgemeinen Tatsachen über die menschliche Gesellschaft kennen, die sich aus dem Alltagsverstand und allgemein anerkannten Analysemethoden ergeben [...]. Sie verstehen politische Fragen und die Grundzüge der Wirtschaftstheorie, ebenso die Grundfragen der gesellschaftlichen Organisation und die Gesetze der Psychologie des Menschen. Sie kennen voraussetzungsgemäß alle allgemeinen Tatsachen, die für die Festsetzung von Gerechtigkeitsgrundsätzen von Bedeutung sind. Bezüglich allgemeinen Wissens, d. h. allgemeiner Gesetze und Theorien, gibt es keine Beschränkung, denn Gerechtigkeitsvorstellungen sollen ja den Eigenschaften der Systeme gesellschaftlicher Zusammenarbeit angepaßt sein, die sie regeln sollen, und es gibt keinen Grund, diese Tatsachen auszuschließen.“ (TG 160f.)

Vorstellung des Guten der Menschen im Urzustand:

Die Menschen im Urzustand sollen einerseits bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze ihre eigenen Interessen fördern, wissen aber andererseits, aufgrund des Schleiers des Nichtwissens, nicht, was genau ihre Interessen sind. Damit sie dennoch eine Entscheidungsgrundlage haben, müssen sie bestimmte allgemeine Annahmen über Vorstellungen des Guten machen, nämlich: Sie verfolgen langfristige Pläne, zu deren Gelingen bestimmte gesellschaftliche Grundgüter notwendig sind.

Schwache Theorie des Guten. Bezüglich der Vorstellungen der Parteien vom Guten wird lediglich vorausgesetzt, „daß es vernünftige langfristige Pläne seien.“ (TG 151; vgl. S. 113) Die Menschen „wissen zwar, daß sie einen vernünftigen Lebensplan haben, aber sie kennen nicht seine Einzelheiten, die einzelnen Ziele und Interessen, die er fördern soll.“ (TG 166)

Gesellschaftliche Grundgüter. Grundgüter sind „Dinge, von denen man annimmt, daß sie ein vernünftiger Mensch haben möchte, was auch immer er sonst noch haben möchte. Wie auch immer die vernünftigen Pläne eines Menschen im einzelnen aussehen mögen, es wird angenommen, daß es verschiedenes gibt, wovon er lieber mehr als weniger haben möchte. Wer mehr davon hat, kann sich allgemein mehr Erfolg bei der Ausführung seiner Absichten versprechen, welcher Art sie auch sein mögen. Die wichtigsten Arten der gesellschaftlichen Grundgüter sind Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen. (Ein sehr wichtiges Grundgut ist das Selbstwertgefühl; [...]). Es dürfte auf der Hand liegen, daß diese Dinge im allgemeinen als Grundgüter zu betrachten sind. Es sind gesellschaftliche Güter, da sie mit der Grundstruktur zusammenhängen; Freiheiten und Chancen werden durch die Regeln der wichtigeren Institutionen festgelegt, ebenso die Einkommens- und Vermögensverteilung.“ (TG 112f.)

Vernünftigkeit und Motivaton der Menschen im Urzustand:

Rationalität. „Von einem vernunftgeleiteten Menschen wird also wie üblich angenommen, daß er ein widerspruchsfreies System von Präferenzen bezüglich der ihm offenstehenden Möglichkeiten hat. Er bringt sie in eine Rangordnung nach ihrer Dienlichkeit für seine Zwecke; er folgt dem Plan, der möglichst viele von seinen Wünschen erfüllt und der eine möglichst gute Aussicht auf erfolgreiche Verwirklichung bietet.“ (TG 166f.)

Die Menschen im Urzustand versuchen „ihrer Vorstellung vom Guten gemäß zu handeln [...], so gut sie können, und [kennen] dabei keine vorgegebenen moralischen Bindungen aneinander [...]. (TG 150f.) „Sie gehen davon aus, daß sie gewöhnlich lieber mehr als weniger gesellschaftliche Grundgüter haben möchten. [...] Sie wissen, daß sie ganz allgemein versuchen müssen, ihre Freiheiten zu schützen, ihre Möglichkeiten auszuweiten und ihre Mittel zur Verfolgung ihrer Ziele, welcher Art sie auch seien, zu vermehren.“ (TG 166)

Gegenseitiges Desinteresse. Die Menschen im Urzustand sind gegenseitig desinteressiert: Sie haben „keine aufeinander gerichteten Interessen [...]. Das bedeutet nicht, daß sie Egoisten wären, die also nur ganz bestimmte Interessen hätten, etwa an Reichtum, Ansehen oder Macht. Sie werden aber so vorgestellt, daß sie kein Interesse an den Interessen anderer nehmen.“ (TG 30; 152)

Neidfreiheit. „Meine Zusatzannahme ist, daß ein vernunftgeleiteter Mensch keinen Neid kennt.“ (TG 166f.)

Gerechtigkeitssinn. „Eine weitere Voraussetzung soll gewährleisten, daß die Regeln genau eingehalten werden. Die Beteiligten sollen einen Gerechtigkeitssinn haben, und das soll unter ihnen allgemein bekannt sein. Diese Bedingung soll die Gültigkeit der Übereinkunft im Urzustand sichern. [...] Sie bedeutet [...], daß sich die Parteien darauf verlassen können, daß jeder die beschlossenen Grundsätze versteht und nach ihnen handelt, wie sie auch beschaffen sein mögen. Sind einmal die Grundsätze anerkannt, so können sich die Parteien darauf verlassen, daß jeder sie einhält. Wenn sie also zu einer Übereinkunft kommen, dann wissen sie, daß es nicht umsonst ist: Ihr Gerechtigkeitssinn sorgt dafür, daß die aufgestellten Grundsätze auch beachtet werden. [...] Nach der Voraussetzung haben die Beteiligten einen rein formalen Gerechtigkeitssinn: Sie beachten alles Wesentliche, auch die allgemeinen Tatsachen der Moralpsychologie, und halten sich an die schließlich beschlossenen Grundsätze. Sie sind insofern vernünftig, als sie sich nicht auf Abmachungen einlassen, von denen sie wissen, daß sie sie nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten einhalten können. [...] Bei der Beurteilung der Gerechtigkeitsvorstellungen sollen also die Menschen im Urzustand davon ausgehen, daß diejenige, die sie annehmen, auch streng eingehalten wird. Die Folgen ihres Beschlusses sind unter dieser Voraussetzung zu beurteilen.“ (TG 168f.)

Zur Behandlung des Problems der Gerechtigkeit zwischen den Generationen kann man „eine Annahme über die Motive machen und sich die Beteiligten als Vertreter einer fortlaufenden Linie von Ansprüchen vorstellen. Zu Beispiel kann man annehmen, es handle sich um Familienoberhäupter, die demgemäß am Wohlergehen ihrer unmittelbaren Nachfahren interessiert seien. Oder man kann von den Parteien verlangen, daß sie sich auf Grundsätze unter der Einschränkung einigen, daß sie wünschen, alle vorhergehenden Generationen möchten genau diesen Grundsätzen gefolgt sein.“ (TG 151) „Um also mit der Frage der Gerechtigkeit zwischen den Generationen zurechtzukommen, ändere ich die Motivationsannahme [der gegenseitigen Desinteressiertheit] ab und füge eine weitere Einschränkung hinzu [...].“ (TG 163)

„Die Voraussetzung der gegenseitig desinteressierten Vernünftigkeit läuft also auf folgendes hinaus: Die Menschen im Urzustand versuchen, Grundsätze aufzustellen, die ihren Zielen so gut wie möglich dienen. Dazu versuchen sie, für sich das größtmögliche Maß gesellschaftlicher Grundgüter zu gewinnen, denn diese ermöglichen es ihnen, ihre Vorstellung von ihrem Wohl, welcher Art sie auch sei, am wirksamsten zu verwirklichen. Die Beteiligten versuchen nicht, einander Gutes oder Schlechtes anzutun; sie sind nicht von Liebe oder Haß bewegt. Sie versuchen auch nicht, einander auszustechen; sie sind nicht neidisch.“ (TG 168)

II. Argumentation im Urzustand

Entscheidungsproblem im Urzustand:

Unter den einschränkenden Bedingungen des Urzustands sollen die Menschen Gerechtigkeitsgrundsätze für die Grundstruktur der Gesellschaft wählen, wobei sie diejenigen Grundsätze wählen sollen, (i) die ihre Interessen am besten fördern, (ii) die ohne große Schwierigkeiten von allen streng eingehalten werden können und (iii) deren allgemeine Anerkennung zu einer stabilen Gesellschaft führt.

Lösung des Entscheidungsproblems:

Zur Begründung der Gerechtigkeitsgrundsätze muß man „zeigen, daß die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze die Lösung des Entscheidungsproblems im Urzustand sind. Dazu muß man zeigen, daß angesichts der Umstände und der Kenntnisse, Ansichten und Interessen der Beteiligten die Einigung auf diese Grundsätze für jeden die beste verfügbare Möglichkeit ist, seine Ziele zu fördern.“ (TG 140f.)

Wahlmöglichkeiten im Urzustand:

Die Gerechtigkeitsprinzipien werden nicht aus den Bedingungen des Urzustands abgeleitet, sondern aus einer vorgegebenen Liste ausgewählt. „Ich setze einfach eine kurze Liste herkömmlicher Gerechtigkeitsvorstellungen als gegeben voraus [...], dazu einige weitere durch die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze nahegelegte Möglichkeiten. Ich nehme nun an, daß diese Liste den Parteien vorgelegt wird, und daß diese sich einstimmig auf eine beste Vorstellung einigen müssen.“ (TG 144f.) Die Liste (TG 146) enthält neben Rawls’ beiden Gerechtigkeitsprinzipien unter anderem folgende Prinzipien:
– Das Prinzip des Durchschnittsnutzens.
– Rawls’ erstes Prinzip und das Prinzip des Durchschnittsnutzens.
– Rawls’ erstes Prinzip und das Prinzip des Durchschnittsnutzens mit der Einschränkung, daß ein bestimmtes Existenzminimum nicht unterschritten wird.
– Rawls’ erstes Prinzip und das Prinzip des Durchschnittsnutzens mit der Einschränkung, daß die Verteilung nicht zu weit streut.
– Rawls’ erstes Prinzip, der Grundsatz der fairen Chancengleichheit und das Prinzip des Durchschnittsnutzens mit der Einschränkung, daß ein bestimmtes Existenzminimum nicht unterschritten wird.
– Rawls’ erstes Prinzip, der Grundsatz der fairen Chancengleichheit und das Prinzip des Durchschnittsnutzens mit der Einschränkung, daß die Verteilung nicht zu weit streut.

Entscheidung unter Unsicherheit:

In der Entscheidungstheorie unterscheidet man drei Arten von Entscheidungssituationen: (i) Eine Entscheidung unter Sicherheit liegt vor, wenn es zu jeder Handlungsalternative genau eine Konsequenz gibt (die mit Sicherheit eintritt). (ii) Eine Entscheidung unter Risiko liegt vor, wenn es zu jeder Handlungsalternative mehrere mögliche Konsequenzen gibt, wobei man jeder Konsequenz eine bestimmte Eintrittswahrscheinlichkeit zuordnen kann. (iii) Eine Entscheidung unter Unsicherheit liegt vor, wenn es zu jeder Handlungsalternative mehrere mögliche Konsequenzen gibt, wobei man diesen Konsequenzen keine Eintrittswahrscheinlichkeiten zuordnen kann.

Aufgrund des Schleiers des Nichtwissens liegt im Urzustand eine Entscheidung unter Unsicherheit vor.
Für Entscheidungen unter Unsicherheit gibt es verschiedene Entscheidungsregeln, darunter die Maximin-Regel und die Laplace-Regel:

Maximin-Regel: Suche zu jeder Handlung die schlechteste Konsequenz. Vergleiche dann die schlechtesten Konsequenzen der Handlungen und wähle diejenige Handlung mit der besten schlechtesten Konsequenz.

Beispiel: (TG 178)

Umstände
Entscheidungen C1 C2 C3
d1 -7 8 12
d2 -8 7 14
d3 5 6 8

Die schlechteste Konsequenz von Entscheidung d1 ist -7, die schlechteste Konsequenz von Entscheidung d2 ist -8, die schlechteste Konsequenz von Entscheidung d3 ist 5. Von allen möglichen Entscheidungen hat also Entscheidung d3 die beste schlechteste Konsequenz (5) und soll daher gemäß der Maximin-Regel gewählt werden.

Laplace-Regel: Da es (gemäß Voraussetzung) keinen Grund gibt, irgendeinem Umstand eine höhere Eintrittswahrscheinlichkeit als einem anderen zuzuordnen, nimm an, daß alle Umstände die gleiche Eintrittswahrscheinlichkeit haben und wähle die Handlung mit dem größten Nutzenerwartungswert.

Anwendung auf das obige Beispiel:
Bei drei möglichen Umständen mit gleicher Eintrittswahrscheinlichkeit beträgt die Eintrittswahrscheinlichkeit p für jeden Umstand 0,33.

Umstände
Entscheidungen C1 (p = 0,33) C2 (p = 0,33) C3 (p = 0,33)
d1 -7 x 0,33 = -2,31 8 x 0,33 = 2,46 12 x 0,33 = 3,96
d2 -8 x 0,33 = -2,64 7 x 0,33 = 3,31 14 x 0,33 = 4,62
d3 5 x 0,33 = 1,65 6 x 0,33 = 1,98 8 x 0,33 = 2,46

Nutzenerwartungswert von d1: -2,31 + 2,46 + 3,96 = 4,11
Nutzenerwartungswert von d2: -2,64 + 3,31 + 4,62 = 5,29
Nutzenerwartungswert von d3: 1,65 + 1,98 + 2,46 = 6,09
Entscheidung d3 hat den größten Nutzenerwartungswert und soll daher gemäß der Laplace-Regel gewählt werden.

Entscheidungstheoretische Argumentation für die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze:

1. Der Urzustand ist so bestimmt, daß es vernünftig ist, die Maximin-Regel anzunehmen (und damit die von dieser Regel ausgedrückte konservative Haltung einzunehmen). (TG 179)

Argumente für die Anwendung der Maximin-Regel:

Unter folgenden drei Bedingungen ist die Anwendung der Maximin-Regel rational:
(a) Es gibt keine zuverlässige Grundlage zur Schätzung der Wahrscheinlichkeiten der möglichen Ergebnisse.
Diese Bedingung liegt im Urzustand vor, da es sich aufgrund des Schleiers des Nichtwissens um eine Entscheidung unter Unsicherheit handelt. Außerdem nimmt Rawls „zur Vervollständigung der Beschreibung des Urzustands an, daß die Beteiligten keine Schätzungen von Wahrscheinlichkeiten verwenden, die sich nicht auf die Kenntnis von Einzeltatsachen, sondern auf das Prinzip des mangelnden Grundes stützen.“ (TG 197)
(b) Es ist rational, nicht besonders daran interessiert zu sein, was man über das garantierte Minimum hinaus gewinnen könnte, das man erreicht, wenn man die Alternative mit dem besten schlechtesten Ergebnis wählt. Diese Bedingung liegt in dem Grade vor, in dem das garantierte Minimum zufriedenstellend ist.
Diese Bedingung liegt vor, da das maximale Minimum, das gegeben ist, wenn die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze in einer Gesellschaft angewendet werden, ziemlich zufriedenstellend ist. Die Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß behauptet, daß eine wohlgeordnete Gesellschaft, in der die Grundstruktur durch die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze geregelt wird, eine in hohem Maße zufriedenstellende politische und soziale Welt ist. (JAFAR, 99f.)[1]
(c) Die schlechtesten Ergebnisse aller anderen Alternativen liegen wesentlich unter dem garantierten Minimum. Diese Bedingung ist in höchstem Maß gegeben, wenn die anderen Ergebnisse sehr weit unter dem garantierten Minimum liegen, völlig unerträglich sind und daher nach Möglichkeit vermieden werden sollten.
Diese Bedingung liegt vor, da wir annehmen, daß es realistische gesellschaftliche Umstände gibt, unter denen das Durchschnittsnutzenprinzip verlangen oder gestatten würde, die Grundrechte und -freiheiten einiger Menschen  zugunsten des größeren Vorteils anderer Menschen einzuschränken oder sie ihnen zu verweigern. (JAFAR, 100)
Damit die Anwendung der Maximin-Regel rational ist, ist es nicht notwendig, daß alle oder irgendeine der drei Bedingungen im vollen Ausmaß vorliegen. Zur Anwendung der Maximin-Regel genügt es, wenn die dritte Bedingung in vollem Ausmaß vorliegt, das garantierte Minimum zufriedenstellend ist und die erste Bedingung wenigstens zum Teil vorliegt. (JAFAR, 99)

2. Wenn man im Urzustand die Maximin-Regel anwendet, wird man sich auf die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze einigen. (D. h., die beiden Grundsätze sind die Maximin-Lösung des Entscheidungsproblems im Urzustand. (TG 177))

Argumente für die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze:

1. Maximin-Argument

– Freie und gleiche Menschen würden nie ihre Grundrechte und -freiheiten riskieren, solange es sicher erreichbare zufriedenstellende Alternativen gibt.
– Wenn eine wohlgeordnete Gesellschaft, in der die Grundstruktur durch die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze geregelt wird, eine sehr zufriedenstellende Gesellschaft ist, in der die gleichen Grundrechte und -freiheiten für alle gesichert sind (Bedingung b), und wenn das Durchschnittsnutzenprinzip verlangen oder gestatten würde, die Grundrechte und Grundfreiheiten einiger Menschen  zugunsten des größeren Vorteils anderer Menschen einzuschränken oder sie ihnen zu verweigern (Bedingung c), dann können die Menschen im Urzustand ihre grundlegenden Interessen als freie und gleiche Personen nur schützen, wenn sie sich auf die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze einigen.
– Also einigen sich die Menschen im Urzustand auf die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze. (JAFAR, 102)

2. Argument der Vertragstreue (TG 202, JAFAR 102f.)

– Gemäß dem kontraktualistischen Ansatz der Gerechtigkeit als Fairneß wird im Urzustand eine Vereinbarung über Gerechtigkeitsprinzipien getroffen. Daher muß bei dieser Vereinbarung der Gesichtspunkt der Vertragstreue (strains of commitment) berücksichtigt werden: Man kann sich nur auf solche Prinzipien einigen, von denen man überzeugt ist, daß man sich unter allen Umständen an sie halten kann.
– Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze sind – gegeben die Bedingung (c) – die einzigen Grundsätze, von denen man vernünftigerweise erwarten kann, daß man sich in allen möglichen gesellschaftlichen Umständen an sie halten kann.
- Also einigen sich die Menschen im Urzustand auf die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze.

3. Argument der Selbstachtung (TG 204ff.)

„[D]ie Menschen im Urzustand [möchten] fast um jeden Preis die sozialen Verhältnisse vermeiden, die die Selbstachtung untergraben. Daß die Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß ihr mehr Gewicht beimißt als andere Theorien, ist für sie ein starker Grund, sich ihr anzuschließen.“ (TG 479)

 

Jean Hamptons Rekonstruktion der Argumentation im Urzustand:

The Deliberation of a Party in the Original Position
Step 1: Submit oneself to the veil of ignorance, such that one is defined solely as a moral personality.
Step 2: Desire the maximum amount of primary goods possible for oneself and one’s family.
Step 3: Know that the circumstances of justice apply in one’s society.
Step 4: Subject any conception of justice proposed to the constraints of the concept of right.
Step 5: Because of the veil of ignorance, conclude that one could be anyone in a society; hence choose a conception of justice (satisfying the constraints of the concept of right) knowing that one might turn out to be the least-advantaged member of the society.
Step 6: To ensure that one will have an adequate amount of the primary goods even if one is a member of the least-advantaged class of citizens, choose that conception of justice using the maximin rule, which says that in an uncertain situation, choose so as to maximize one’s minimum prospect.
Step 7: In a pairwise choice between (some form of) utilitarianism and “justice as fairness,” choose the latter, insofar as the maximin rule dictates the selection of a conception of justice that does not permit the sacrifice of any individual for the community’s benefit and distributes resources so as to benefit everyone – in particular the least advantaged (thereby maximizing one’s minimum prospect). (Jean Hampton: Political Philosophy, Boulder 1997, S. 139f.)


[1]   Abkürzungen: TG: John Rawls (1971): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975. JAFAR: John Rawls (2001): Justice as Fairness. A Restatement, hrsg. von Erin Kelly, Cambridge, Mass.